Wer zum ersten Mal eine naturwissenschaftliche Vorlesung besucht, ist nicht selten total verwirrt. Denn Hochschulalltag und Studiumsinhalt haben wenig mit dem Schulunterricht gemeinsam. „Wer Mathe studiert, bekommt zuerst einen Schock“, weiß Thomas Walke, Lehrer am Albert-Schweitzer-Gymnasium (ASG) in Neckarsulm. Die Diskrepanz sei einfach zu groß.
Neuer Blick
Um die Schüler*innen besser auf das Studium vorzubereiten, können Gymnasien seit fünf Jahren einen Mathevertiefungskurs in den Klassen elf und zwölf anbieten. Der macht Vorbereitungskurse an der Uni hinfällig und eröffnet den Teilnehmer*innen einen neuen Blick auf die Mathematik. Gleichzeitig haben die Schüler*innen mit der Zertifizierungsklausur an einer Universität, die Teil des Vertiefungskurses ist, einen Schein in der Hand, der an vielen Hochschulen anerkannt wird. „Es ist eine Bereicherung fürs Portfolio„, erklärt Thomas Walke.
„Der Kurs hat nichts mit normalem Unterricht zu tun“, sagt Nico Haaf. Der Schüler aus Bad Friedrichshall besucht den Vertiefungskurs am ASG. Und da wird nicht nur gerechnet: „Wir wollen verstehen, was dahinter steckt.“ Auf schülergerechtem Niveau werden Uni-Themen wie der Grenzwertbegriff oder komplexe Zahlen behandelt. Im Vertiefungskurs ist Zeit für ausführliche Beweisführung und elegante Problemlösungen. „Die Schüler*innen lieben das“, sagt Eberhard Enz. Der Lehrer leitet den Kurs am Robert-Mayer-Gymnasium in Heilbronn.
Blumen am Wegesrand
Mathematik sei die Wissenschaft, die das Begründen am weitesten kultiviert hat, so Enz. Nur bleibe dafür im täglichen Unterricht kaum Zeit: „Mathe im normalen Unterricht ist eher eine Autobahnfahrt“, erklärt Enz. Im Vertiefungskurs hingegen könne man die Blumen am Wegesrand genauer betrachten. „Wir zeigen, was Mathematik eigentlich ist“, ergänzt ASG-Lehrer Thomas Walke.
„Man lernt die Hintergründe„, sagt Zwölftklässler Tobias Schwientek. Alles werde einfacher, weil man es selbst herleitet. Der Schüler des ASG will nach dem Abitur Naturwissenschaften studieren. „Das wusste ich schon in Klasse zehn definitiv“, erzählt er. Deshalb hat er den Kurs gewählt.
Allerdings ist ein konkretes Berufsziel keine Voraussetzung, nur das Interesse für das Fach. Daniel Welker beispielsweise will zwar Wirtschaftsingenieurwesen studieren, aber das habe sich erst im Laufe der Zeit ergeben, betont er. „Es war die richtige Entscheidung“, sagt der Schüler über seine Kurswahl. Die wissenschaftliche Herangehensweise werde auch im Lehrbuch deutlich: „Da gibt es keine Bilder wie im Schulbuch“, erklärt Daniel Welker.
Brücke zur Uni
Der Kurs ist Teil der im Bildungsplan geforderten Binnendifferenzierung, bei der Schüler*innen einzelne Kurse entsprechend ihrer Neigung wählen können. Die Teilnahme ist freiwillig, trotzdem gibt es Noten und Klausuren. Zum Programm am ASG gehört neben der Fahrt zur Zertifizierungsklausur nach Heidelberg auch der Besuch einer Mathevorlesung an der Universität. So bekommen die Gymnasiasten eine Ahnung von universitärer Arbeit. „Es ist eine wirkliche Brücke zu Uni„, sagt Thomas Walke. Damit werde der Graben zwischen Gymnasium und Hochschule kleiner, ergänzt Eberhard Enz.
Das Angebot soll allerdings nicht nur jene vorbereiten, die ihr Fach längst gewählt haben. „Das Ziel ist auch, dass sich wieder mehr Schüler*innen für solche Studiengänge entscheiden„, erklärt Marco Haaf, Schulleiter am ASG.