Seit sechs Jahren arbeitet Vanessa Stöhrl freiberuflich als Gebärdensprachdolmetscherin. Sie begleitet Gehörlose zum Arzt, ist bei polizeilichen Vernehmungen dabei und vielem mehr. Sie dolmetscht zwischen Deutscher Gebärdensprache (DGS) und Lautsprache. Mit uns sprach die gebürtige Zwickauerin über die Unterschiede zum Schwäbischen, warum sie gerne Musik übersetzt und über ihre eindrucksvollsten Erlebnisse: das Dolmetschen bei Geburten.
Wie kamen Sie dazu, Dolmetscherin zu werden?
Vanessa Stöhrl: Nach meinem Abitur in Zwickau habe ich erstmal ein Freiwilliges Soziales Jahr gemacht. Dort bekam ich erste Kontakte zu hörgeschädigten Menschen, die zusätzlich eine psychische Behinderung hatten. Das war tatsächlich mein erster Kontakt mit der Sprache. Dann habe ich gesehen, dass es in Zwickau den Diplom-Studiengang Gebärdensprachdolmetschen gibt, habe es probiert, und es war genau das Richtige.
Können Sie erklären, wie das Gebärdensprachen-Dolmetschen funktioniert?
Stöhrl: Ich dolmetsche in zwei Sprachen. Einmal in die deutsche Lautsprache und dann in die deutsche Gebärdensprache, auch DGS genannt. Wenn ich einen Vortrag dolmetsche, der in deutscher Lautsprache gehalten wird, höre ich den Inhalt und übersetze ihn in deutsche Gebärdensprache. Viele denken, ich dolmetsche Wort für Wort. Das ist es absolut nicht. Ich dolmetsche vielmehr auf der inhaltlichen Ebene, denn die deutsche Lautsprache und die DGS sind komplett unterschiedliche Sprachen.
Inwiefern sind die Sprachen unterschiedlich?
Stöhrl: Zunächst in Aufbau und Grammatik. Zum Beispiel der Satz „Ich gehe zum Bahnhof“, wäre korrekt in DGS übersetzt „Ich Bahnhof gehen“. Zudem gibt es auch kulturelle Unterschiede zwischen der gehörlosen und der hörenden Welt.
Was meinen Sie mit kulturellen Unterschieden?
Stöhrl: Das ist gar nicht so einfach zu erklären, da es so vielseitig ist. Durch das fehlende Hörvermögen und die andere Kommunikations- und Interaktionsform haben taube Menschen eine eigene kulturelle Gemeinschaft. Sie haben andere Bedürfnisse, Lebensumstände, Erfahrungen und grenzen sich ein Stück weit von der hörenden „Welt“ ab. Es gibt eigene Vereine, Veranstaltungen, Poesie, Theater oder die Deaflympics. Auch die Umgangsformen sind andere. Aber ich denke eine taube Person kann das natürlich viel besser erläutern. Es ist wirklich eine andere „Welt“, und es lohnt sich, mal reinzuschnuppern.
Sie übersetzen seit einigen Jahren den Bürgerempfang in Heilbronn. Dabei übersetzen Sie auch die Musik. Wie funktioniert das?
Stöhrl: Musik dolmetschen ist ganz anders. Ich muss dann auch noch den Rhythmus anzeigen. Und die Liedtexte sind oft sehr poetisch, und das interpretiert jeder anders. Das heißt, ich zeige meine eigene Interpretation der Lieder. Zudem braucht das auch viel Vorbereitung, weil ich den Text komplett auswendig können muss. Aber es macht unglaublich viel Spaß. Ich würde tatsächlich gerne mehr Musik übersetzen, aber da gibt es wenig Anfragen.
Sie sind aus Sachsen nach Süddeutschland gezogen – beides Regionen mit starken Dialekten. Gibt es Dialekte auch in der Gebärdensprache?
Stöhrl: (lacht). Ja, definitiv. Ich habe in meiner Zeit in Zwickau die sächsische Gebärdensprache gelernt und hier musste ich mich erst einmal umgewöhnen. Es sind keine riesigen Unterschiede, aber zum Beispiel haben die Wochentage andere Gebärden – und dann kam dazu, dass ich erst noch das gesprochene Schwäbisch verstehen musste.
Kann man denn wirklich alles übersetzen, oder verkürzen Dolmetscher auch mal etwas?
Stöhrl: Niemals. Ich übersetze wirklich alles. Auch wenn etwa nebenher zwei Hörende etwas Privates miteinander besprechen. Das übersetze ich auch, denn ein Hörender würde das ja auch mitbekommen. Manchmal sagen die Hörenden: Das brauchen Sie nicht übersetzen, das ist ja nicht interessant, aber das ist der absolut falsche Ansatz. Das soll die gehörlose Person doch selbst entscheiden, was sie interessant findet.
Wie anstrengend ist das Dolmetschen?
Stöhrl: Es ist sehr anstrengend. In der Regel kann man eine Stunde lang dolmetschen. Wenn es länger geht, ist eine Doppelbesetzung nötig. Nach einer Stunde lässt nachweislich die Qualität nach und der Inhalt wird nicht mehr zu einhundert Prozent transportiert. Vor allem bei komplizierteren Themen, wie einer Betriebsversammlung, kann das sehr anstrengend werden.
Was war ihr beeindruckendster Moment als Dolmetscherin?
Stöhrl: Ganz klar: Geburten. Ich war bei zwei Geburten dabei, das war sehr emotional und beeindruckend. Es ging auch deutlich länger als die Stunde, aber es war natürlich ein höchst intimer Einsatz, da wären zwei Übersetzer*innen zu viel gewesen. Aber es war wichtig für die Gehörlosen, dass sie in ihrer Muttersprache mitbekommen, was Ärzt*innen und Hebammen sagen.
Zur Person
Seit sechs Jahren arbeitet Vanessa Stöhrl freiberuflich als Gebärdensprachdolmetscherin. Nach ihrem Diplom-Abschluss als Gebärdensprachdolmetscherin in Zwickau zog es Stöhrl in die Region Heilbronn-Franken. Sie lebt derzeit in Neuenstadt am Kocher und begleitet Gehörlose zu Arztterminen, ist bei polizeilichen Vernehmungen dabei, übersetzt Betriebsversammlungen, Empfänge und vieles mehr.