Pionier der deutschen Fallanalyse
Früher arbeitete Andreas Tröster ab und zu mit Profilern des amerikanischen FBI zusammen. Dann kam 1991 der Thriller „Das Schweigen der Lämmer“ in die deutschen Kinos. Der Film um die FBI-Agentin Clarice Starling, gespielt von Jodie Foster, und den Massenmörder Hannibal Lecter (Anthony Hopkins) elektrisierte nicht nur Filmfans. „Es war ein allgemeiner Spirit, der über den Teich schwappte“, erinnert sich Tröster an die 1990er Jahre. Sicherheitsbehörden in Deutschland kamen zu dem Schluss: „Wir brauchen auch Fallanalytiker.“ Tröster gehört in Deutschland zu den Pionieren. Er baut den Bereich Operative Fallanalyse im baden-württembergischen Landeskriminalamt (LKA) in Stuttgart auf, seit 24 Jahren leitet er ihn.
Der Fall des kleinen Ole
Gegen den Begriff Profiler hat Tröster nichts einzuwenden, auch wenn er nicht ganz zutrifft. Viele Menschen könnten – auch durch Krimiserien im Fernsehen – damit etwas anfangen. „Die Arbeit kostet Kraft und erfordert physische und psychische Stabilität„, sagt der Erste Kriminalhauptkommissar. Die Tätigkeit beinhalte tragische Geschichten, „schlimme Fälle“. Wie der des kleinen Ole im Hohenlohekreis, der von seiner Pflege-Oma im Jahr 2018 erwürgt wird. „Man hatte einen toten Jungen. Man hatte eine Verdächtige. Man hatte aber kein Motiv“, sagt Tröster.
In Filmen und TV-Serien ermitteln Profiler*innen selbst, sie vernehmen und befragen Verdächtige und Zeug*innen, stürmen bei Festnahmen in Wohnungen und Häuser. Die Realität sieht anders aus. „Wir sind Berater„, sagt Tröster. Fallanalytiker*innen erstellen Täterprofile, nehmen eine Motivbewertung vor und entwickeln für den jeweiligen Fall Medien– und Vernehmungsstrategien. In etwa 20 Fällen im Jahr helfen die Operativen Fallanalytiker*innen bei der Aufklärung von Verbrechen in Baden-Württemberg. Sexualstraftaten, Mord und Totschlag, Tierschändungen – „die sind selten, aber bizarr“, sagt Tröster – oder bei Brandstiftungen wie der Brandserie in Gundelsheim.
Im Fall des siebenjährigen Ole aus Künzelsau bitten die Kripo-Beamt*innen Tröster und sein Team, die Motivlage zu bewerten. Die Profiler*innen machen sich ans Werk. „Wir rekonstruieren die Tat“, sagt Tröster. „Was ist in welcher Abfolge vorgefallen?“ Die Profiler*innen nehmen den Tatort unter die Lupe und studieren Akten. Im LKA ziehen sie sich in ihren Analyseraum zurück.
Im Fall Ole habe man den unbekannten Fremden als Täter ausschließen können. Die Verletzungen deuten nicht auf einen Unfall hin. Es muss jemand sein, der im Haus der Kindersitterin ein- und ausgeht. Die Profiler*innen ziehen einen Psychologen zu Rate. Verlustängste der Oma könnten zur Tat geführt haben. „Der Junge wurde größer, selbstständiger.“ Mit dem, was die Profiler*innen zusammentragen, gehen die Polizist*innen in die nächste Befragung der Seniorin. „Es gab Anzeichen und Hinweise, die sich verdichteten.“ Im April 2019 wird die 70-jährige Pflege-Oma zu mehr als zehn Jahren Haft wegen Totschlags verurteilt.
Interpretationen, Analysen und Hypothesen
„Analysen sind Einschätzungen„, erklärt Tröster. Eine Handlung lasse viele Interpretationen zu. Beispiel: Jemand wird mit zahlreichen Messerstichen umgebracht. Eine Möglichkeit: Hinter der Tat steckt etwas Persönliches. Oder aber das Opfer hat sich einfach heftig gewehrt. Oder die Täter*innen waren unfähig, hat ein Taschenmesser benutzt und musste häufiger zustechen als geplant. Täter*innen hätten mitunter falsche Vorstellungen davon, wie lange es dauert, bis ein Mensch tot ist. Aufgabe der Fallanalytiker*innen ist es, Hypothesen zum Tatgeschehen aufzustellen und zu priorisieren. Das funktioniert nicht immer.
Tröster gibt ein Beispiel: Ein Mann findet seine Frau leblos in der Badewanne. Er lässt das Wasser ab und hebt sie heraus. Ob das wahr ist? Der Todeszeitpunkt lässt sich nicht mehr gut bestimmen, weil zum Beispiel Angaben zur Temperatur des Badewassers fehlen. Blaue Flecken am Körper der Leiche könnten durch Gewalt entstanden sein oder durch Reanimationsmaßnahmen. Anhand der Spuren lassen sich zwar verschiedene hypothetische Szenarien zum Geschehen aufstellen, aber keinem kann man den Vorrang einräumen.
Bei Delikten wie Raub, Einbrüchen oder Betrügereien kommen Profiler*innen selten zum Einsatz. Die Taten gleichen sich in der Herangehensweise meist zu sehr. Auch das Motiv ist immer gleich: Die Täter*innen wollen sich bereichern. Äußerst schwierig gestalten sich zudem Untersuchungen wegen Brandstiftungen. Weil wenig übrig bleibt, an dem sich etwas über die Täter*innen ablesen lässt, sagt Tröster. In Gundelsheim schaut sich Trösters Team deshalb unter anderem an, wann und wo genau das Feuer gelegt wurde. Bei einem Gebäude etwa müsse er risikoreicher vorgehen als auf einem Feld.